24 Aug

Ländlicher Raum ist mehr als Freizeitregion und Wasserlieferant

25 Jahre Regionalentwicklung – Tag der hessischen LEADER-Regionen mit Umweltministerin Priska Hinz 

VOGELSBERG (pm). Die ländlichen Regionen profitieren von einer facettenreichen Förderkulisse – darunter auch seit über 25 Jahren das LEADER-Entwicklungsprogramm der Europäischen Union. Dieses Jubiläum nahm der Verein „Hessische Regionalforen e.V. (HRF e. V.)“, in dem alle 24 hessischen LEADER-Regionen vernetzt sind, zum Anlass, einen ganzen Tag lang über die Wirkung und Nachhaltigkeit sowie über Kritik und Perspektiven der Programme zu diskutieren. Hierzu hatte der HRF e. V. in das Forschungszentrum Neu-Ullrichstein eingeladen – das größte Freilandforschungszentrum seiner Art in Europa war seinerzeit als LEADER-Projekt gestartet und bot somit nicht nur eine angenehme Tagungsumgebung, sondern auch inhaltliche Anknüpfungspunkte.
Neben Vertreterinnen und Vertretern der hessischen Regionalforen, von interessierten Unternehmen sowie von politischen, gesellschaftlichen und kirchlichen Gremien, begrüßte Thomas Schaumberg, LEADER-Regionalmanager für die Region Vogelsberg und Vorsitzender des Hessische Regionalforen e.V., am Freitagmorgen die hessische Umweltministerin Priska Hinz. Der volle Saal zeige das Interesse an dem Thema Regionalentwicklung, schlussfolgerte Schaumberg, der dem Tagesprogramm vorausschickte, dass 25 Jahre LEADER Anlass zu Stolz gäben, besonders auf die Menschen in den Regionen, die sich engagiert hätten. Sein Tagesthema war die Wirksamkeit von politischen Entscheidungen und Normen auf den ländlichen Raum: Die Stilllegung einer Berufsschulklasse wegen Nichterfüllung der vorgegeben Schülerzahl beispielsweise habe viele Folgen auf die lokale Wirtschaft, hier bis hin zu einem Rückgang der Ausbildungsplätze. Somit stehe eine solche Entscheidung in direktem Zusammenhang mit dem Fachkräftemangel und einer Schwächung des ländlichen Raums. Desweiterein unterstrich Schaumberg die Leistungen und Expertise der Menschen vor Ort und der LEADER-Foren. Für sie forderte er eine größere Autonomie ein. Als drittes wichtiges Thema machte Schaumberg das wachsende Gefälle zwischen Stadt und Land aus – Aspekte genug, um einen Tag lang Antworten zu finden auf die Frage, was mit und jenseits von Förderprogrammen getan werden kann, um sowohl den ländlichen Raum zu stärken als auch eine Balance zwischen Stadt und Land zu schaffen.
Priska Hinz: Die Vielfältigkeit des ländlichen Raums hervorheben
Moderator Stefan Kämper (stellv. Leiter Deutsche Vernetzungsstelle Ländliche Räume, Bonn), der selbst durchaus einen Trend zur „Landlust“ bei den Menschen aus den Ballungsgebieten erkennt, bat als erste Rednerin Priska Hinz ans Rednerpult. 80 % der Fläche Hessens seien ländlicher Raum, gab die Staatsministerin bekannt, 50 % der Bewohnerinnen und Bewohner Hessens lebten dort. „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ sollten also kein leerer Spruch sein, sondern Maßstab für die Regionalentwicklung. Sie betonte die Vielfältigkeit der hessischen Regionen – ein Pfund, mit dem man wuchern könne, sei es hinsichtlich der Entwicklung nachhaltiger Tourismusstrategien, regionaler Wertschöpfung mit regionalen Lebensmitteln und Gerichten oder mit Naturschutzkonzepten, die sowohl mit dem Klimaschutz als auch der Landwirtschaft in Einklang zu bringen seien. Für die Verbesserung der regionalen Wertschöpfung sieht Hinz die Notwendigkeit der Digitalisierung, die flächendeckend durch stabile und leistungsfähige Netze gesichert sein müsse – eine Versorgung, auf die viele Orte in den ländlichen Regionen noch warten. Klimaverträgliche Mobilitätskonzepte seien vonnöten, dazu Strukturen zur Daseinsvorsorge: Mit Blick auf den Veranstaltungsort sagte die Ministerin, Menschen müssten einen Anreiz haben, in den Vogelsberg zu kommen, Unternehmen einen Grund sehen, um Arbeitsplätze hierhin zu verlagern. Um dies zu erreichen, seien starke Städte und Kommunen gefragt, die das große Plus des ländlichen Raumes in die Betrachtungen einbringen. Hier sieht Hinz auch eine Aufgabe der LEADER-Foren, die gegenseitig von Konzepten und Entwicklungsstrategien profitieren könnten. Die LEADER-Regionen deckten Hessen fast vollständig ab – mit einer Fördersumme von insgesamt 51 Mio. Euro aus EU- und Landesmitteln in der aktuellen Förderperiode von 2014 bis 2020 seien viele lokale Initiativen gefördert worden. Beispielhaft nannte sie das Dorfbräuhaus in Landenhausen, die Errichtung von Qualitätswanderwegen wie dem „Lahnwanderweg“ oder die Unterstützung von Erlebniszentren wie dem „Haus am Roten Moor“. „Die Projekte kommen aus der Region, von Menschen aus der Region“, führte die Ministerin aus. Damit böten sie ein hohes Identifikationspotenzial in der Bevölkerung, zudem würden die Ressourcen einer Region damit gut genutzt. Für die Zukunft seien Perspektivwechsel, Kontinuität und Vertrauen nötig, so Hinz abschließend. Die Verwaltung der Förderanträge müsse unkomplizierter werden, die LEADER-Managements vor Ort sollten flexibler reagieren können. „Erfolg ist da am größten, wo viele gute Bereiche zusammenarbeiten und eine kohärente Strategie über Einzelprojekten steht.“ Sie freue sich auf Anregungen und Ergebnisse dieses Tages.
Gefahr einer Abwärtsspirale durch demographischen Wandel
Dennoch, und bei allen guten Projekten zur Regionalentwicklung, mache sich der Mega-Trend zur Urbanisierung auch in Hessen immer deutlicher bemerkbar. Boomende Metropolen und schrumpfenden Peripherien bringen jedoch für beide Nachteile: Steigende Preise und zu wenig Wohnraum auf der einen Seite, eine strukturelle Abwärtsspirale auf der anderen. Manuel Slupina vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung hatte viele Charts und Zahlen zu diesem Thema mitgebracht. Er referierte über die aktuelle und zukünftige Schrumpfung in den ländlichen Regionen Hessens und ein deutliches Nord-Süd-Gefälle im Land. Slupina machte hier sowohl eine demographische als auch eine wirtschaftliche Zweiteilung aus. Exemplarisch prophezeite er dem Vogelsberg eine Schrumpfung von 14 % bis 2030. Eine solche Entwicklung führe dazu, dass wirtschaftliche, soziale und infrastrukturelle Strukturen in Gefahr geraten. Mit drei Thesen untermauerte der Referent diese Prognosen, gleichzeitig zeigte er Mittel zur Gegensteuerung auf: Metropolen ziehen vermehrt Fachkräfte aus dem ländlichen Raum, was die Wirtschaft vor Ort massiv gefährde. In der Regel gebe es nämlich keinen Mangel an Jobs auf dem Land, sondern an Fachkräften. Mit Schulpartnerschaften und Ausbildungsbörsen könnten sich Unternehmen auf dem Land als Arbeitgeber präsentieren. Sie könnten Duale Studiengänge anbieten und Dual Career Services für Land-Rückkehrer und ihre Partner entwickeln. Kommunen könnten tragende Konzepte für junge Familien anbieten. Multifunktionale Dorfläden, inter- und multimodale Mobilitätskonzepte und Anreize für junge Mediziner könnten Strukturprobleme auffangen. Dem Paradoxon von Neubaubedarf in den Städten – allein Frankfurt fehlten jährlich 8.000 Wohnungen – und dem Leerstand in der Peripherie könne man mit Rückkehrangeboten begegnen.
In der nachstehenden Fragerunde stieß die Forderung nach einer Ausdehnung des Frankfurter Nahverkehrsnetzes auf die Peripherie auf große Zustimmung. So könnten Pendler leichter in das Rhein-Main-Gebiet reisen und Arbeitnehmer demnach ihren Wohnraum problemlos weiter aufs Land verlegen.

Stärken des ländlichen Raums in alle Richtungen kommunizieren
Nach der Mittagspause, die wie zuvor das Morgenprogramm von der Formation „Tolle Tröten – SaxConAction Vogelsberg“ unter der Leitung von Ulrike Schimpf musikalisch eingerahmt wurde, stand eine Podiumsdiskussion auf dem Programm, an der Manuel Slupina, Thomas Schaumberg, die Landrätin des Marburg-Biedenkopf-Kreises Kirsten Fründt, die Schottener Bürgermeisterin Susanne Schaab und Frank Bartelt vom Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) teilnahmen. Fründt stellte das aktuelle Projekt ihres Kreises vor, das nachhaltiges Wirtschaften, Gemeinwohlorientierung und fairen Handel in der Region forcieren soll mit dem Ziel, Zuzug und Nachhaltigkeit zu generieren. Schaab, deren Kommune mit als erste am IKEK-Programm teilgenommen hatte, kritisierte, dass viele Projekte für die Größe der Kommunen unterfinanziert seien. Mit Blick auf die vorhergehenden Ausführungen Slupinas führte sie an, dass ihre Kommune gemessen an den schlechten Prognosen eine durchaus stabile Bevölkerungsanzahl verzeichnen könne, wenngleich eine leicht schwinde Population nicht von der Hand zu weisen sei. Wie Fründt auch zeigte sich die Bürgermeisterin der Meinung, dass der ländliche Raum keineswegs allein als Freizeitregion und Wasserlieferant für die Menschen aus den Ballungsgebieten zu sehen sei, noch sei er das politische Sorgenkind. Im Gegenteil: Der ländliche Raum biete viele Stärken, die deutlich und selbstbewusst sowohl an die Politik und die Menschen in den großen Städten als auch an die Bewohnerinnen und Bewohner der Dörfer und kleinen Städte kommuniziert werden müssten. Slupina gab zu bedenken, dass der Trend dennoch in Richtung Wachstum der Ballungsräume und Schrumpfung der ländlichen Räume zeige, auch wenn er zugestand, dass es individuelle Entwicklungen gebe. Thomas Schaumberg forderte, dass die Politik dem städtischen Wachstum Grenzen aufzeigen müsse, was auf viel Zustimmung im Publikum stieß. Die Wirtschaftskraft, die auf dem Land zum einen durch Schrumpfung, zum anderen aber auch durch die nicht zu Ende gedachte Wirksamkeit politischer Entscheidungen wegfalle, werde in den Ballungsräumen nicht aufgefangen, stellte er fest und betonte, dass starkes Wachstum auch dort Schmerzen verursache. „Von einer Steuerung profitieren beide Räume“, zeigte Schaumberg sich gewiss. Frank Bartelt beleuchte die Fördermaßnahmen aus Sicht der Vergabestelle. Der Kritik des zu hohen Verwaltungsaufwandes schloss er sich an und stellte Vereinfachungen ist Aussicht. Wie nötig das ist, führten insbesondere die Landrätin und die Bürgermeisterin aus, da viele Unternehmen vor dem Antragswesen zurückschreckten. Darüber hinaus war sich das Podium einig, dass mehr innovative Ideen und Projekte in die Förderung eingebunden werden müssten und überregionale Kooperationen gefördert werden sollten. Zum Abschluss betonte Thomas Schaumberg die Bedeutung der Folgenabschätzung und warf die gesamte Expertise der LEADER-Regionen in den Ring, die bei der Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse eine wichtige Rolle spielen könne.
Am Ende des Tages ging das Wort an den Gastgeber. Prof. Dr. Klaus Peter Ebke stellte die Forschungseinrichtung in Neu-Ulrichstein vor uns sorgte damit noch einmal für einen Wissenszuwachs ganz anderer Art. Die Vertreterinnen und Vertreter des Ministeriums sowie die Teilnehmenden hatten nach dem Tag der hessischen LEADER-Regionen jedenfalls viel mitzunehmen, um es in ihre zukünftigen Aktivitäten und Entscheidungen einzubinden.
© T. Schlitt